Burchard von Worms und die vorgratianischen Sammlungen

Burchard von Worms und die vorgratianischen Sammlungen

Organisatoren
Akademie-Projekt „Burchards Dekret Digital“, Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Universität Kassel, Johannes Gutenberg Universität Mainz
Ort
digital (Erlangen)
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.10.2021 - 12.10.2021
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Von
Elena Vanelli, FB 05 Gesellschaftswissenschaften, Universität Kassel

Die zweite internationale Tagung des von Ingrid Baumgärtner (Kassel), Klaus Herbers (Erlangen) und Ludger Körntgen (Mainz) geleiteten Projekts „Burchards Dekret Digital“ der Mainzer Akademie der Wissenschaften beschäftigte sich mit den komplexen und vielschichtigen Wechselwirkungen zwischen dem Decretum Burchardi und anderen kirchenrechtlichen vorgratianischen Texten. Die acht Vorträge der Veranstaltung fokussierten nicht nur die Arbeitsprozesse im Wormser Skriptorium mit Fragen nach den Quellen und Vorlagen des Dekrets, sondern nahmen auch die späteren überregionalen Rezeptionsdynamiken des Werkes in den Blick. Vor diesem Hintergrund war es ein zentrales Anliegen der Veranstalter:innen, die Erwartungen der Fachgemeinschaft an eine Edition der Wormser Sammlung zu sondieren und unterschiedliche Ansätze zur weiteren Operationalisierung des Vorhabens zu diskutieren.

Nach einleitenden Bemerkungen von Ludger Körntgen stellte MARTINA GIESE (Würzburg) einen handschriftlichen Neufund zur Überlieferung der Vita Burchardi vor. Sie erörterte vor allem die Besitz- und Forschungsgeschichte einer bisher für verschollen gehaltenen Handschrift, die 2018 versteigert wurde und heute in privater Hand ist. Die existierenden Textausgaben, zuletzt 1893, seien überholt und machten eine neue Edition erforderlich, die auch den unbekannten Textzeugen einbeziehen müsse. Denn es sprechen mehrere Indizien dafür, dass dieser Text die Vorlage für das Insert der Vita in der am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert entstandenen Kirschgartener Chronik gewesen sein könnte, die bislang als die früheste erhaltene Fassung galt. Als wichtige Argumente für diese These nannte Giese die zeitliche Koinzidenz und das Fehlen des Prologs in beiden Versionen, die Annotationen, die inhaltliche Passgenauigkeit und die Plünderung des Stifts Kirschgarten im Jahre 1525, bei der ein Großteil der Bibliothek verloren ging, nachdem Johannes Heydekyn von Sonsbeck die Chronik aufgezeichnet hatte.

ERIC KNIBBS (München) ging der Frage nach, welche Pseudoisidor-Handschriften Burchard von Worms kannte. Im Zuge detailreicher Untersuchungen kam er zu dem Ergebnis, dass sich Burchards Skriptorium verschiedener Fassungen der Pseudoisidorischen Dekretalen bedient haben muss, deren Spuren und Mischformen sich im Decretum Burchardi wiederfinden. So führten Beobachtungen von feinen paläografischen Überschneidungen zu der Hypothese, dass Burchard die Handschrift 114 der Kölner Diözesan- und Dombibliothek und ihren Begleitband 113, eine unvollständige Kopie der Cluny-Version, für die Redaktion seines Dekrets herangezogen haben dürfte.

Eine methodologisch stringente Auswertung textkritischer Varianten zeichnete auch den Vortrag von CORNELIA SCHERER (Erlangen) aus, die einen Einblick in die laufenden Editionsarbeiten des Projekts „Burchards Dekret Digital“ gab. Auf der Grundlage aller Handschriften der Wormser Redaktion verfolgte sie die Rezeption verschiedener westgotischer Rechtssammlungen, darunter die Lex Romana Visigothorum, die Capitula Martini, die Epitome Hispana sowie Kanones westgotischer Konzilien. Damit leistete sie einen wichtigen Beitrag zur Quellenidentifikation und -rezeption verschiedener Kapitel des Wormser Dekrets.

Zum in der Forschung umstrittenen Verhältnis zwischen dem Decretum Burchardi und der zeitgenössischen Collectio Duodecim Partium äußerte sich GRETA AUSTIN (Puget Sound). Anhand der Analyse der Bücher 6, 10, 11 und 12 aus Burchards Sammlung stellte Austin die Hypothese auf, dass die CDP nur auf einen frühen Kern des Dekrets zurückgreife und die späteren Überarbeitungen ignoriere. Art und Intensität der Beziehungen zwischen dem Wormser und dem Freisinger Skriptorium belegen demnach einen regen Austausch von Rechtstexten zu Beginn des 11. Jahrhunderts, dokumentieren die zentrale Rolle kleinerer Sammlungen und führen die Verwobenheit kanonistischer Texte mit anderen Gattungen deutlich vor Augen.

Zwei weitere Vorträge thematisierten die spätere Rezeption und überregionale Verbreitung des Dekrets. So beschäftigte sich KATE CUSHING (Keele) mit der Rezeption in Italien und betonte zunächst die zentrale Rolle Italiens für die Überlieferung, indem sie hervorhob, dass eine bedeutende Gruppe von Handschriften (ungefähr 30 von 80) dieser Region zuzuweisen sei und dort eine große Wirkung entfaltete. Anschließend ordnete sie das Dekret in den Kontext von ausgewählten kirchenrechtlichen Sammlungen der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts ein. Durch ihre erneute Auseinandersetzung mit der handschriftlichen Überlieferung konnte sie die bisherige Forschungsmeinung widerlegen, dass Burchard in diesen Texten nur wenig Beachtung gefunden habe.

CHRISTOF ROLKER (Bamberg) wandte sich der Frage zu, wie und in welcher Form das Dekret seinen Weg nach Chartres fand. Er präsentierte die sorgfältige Textidentifikation der 1944 verbrannten und fragmentarisch erhaltenen Handschrift BM 161 aus Chartres, die ursprünglich Teil der dortigen Kathedralbibliothek war, und veranschaulichte sehr beeindruckend, dass schon wenige Buchstaben, Wortteile und Worte ausreichen, um mittels der MGH-Datenbank Clavis Canonum die in diesen Handschrift-Fragmenten überlieferten Textpassagen des Decretum Burchardi zu rekonstruieren. Laut Rolker handelt es sich bei BM 161 um eine Handschrift, die auf eine italienische Vorlage zurückginge und zugleich Überscheidungen mit der kanonischen Sammlung Ivos von Chartres aufweise. Deshalb geht er davon aus, dass die Handschrift eine Art „Flaschenhals der Überlieferung“ von Burchards Dekret über Norditalien nach Chartres darstellt.

Zwei Vorträge gaben Einblicke in Chancen und Herausforderungen moderner editorischer Praxis. LOTTE KÉRY (Mainz) setzte sich in detektivischen Recherchen mit den formalen und materiellen Quellen von Burchards Buch 12 über den Meineid auseinander. Dafür bereitete sie eine Probeedition des Buches auf einer belastbaren Textgrundlage vor. Ziel war es, den Umgang Burchards und seines Skriptoriums mit den verschiedenen Quellenvorlagen aufzuzeigen und die zahlreichen Umformulierungen aufzuspüren. Im Vordergrund stand insbesondere die Komplexität der Zitatidentifikation. Mit ihrem Beitrag lieferte Kéry eine vielversprechende Vorschau auf die weiteren Projektarbeiten.

Eine wichtige Referenz für das weitere Vorhaben stellt die kritische Edition des Sendhandbuches von Regino von Prüm dar. WILFRIED HARTMANN (Tübingen) erläuterte in seinem Vortrag zum einem die Grundlagen seiner Edition, für die er die Handschriften nach Versionen (genuin, interpoliert und älteste Rezeption) gruppierte. Zum anderen legte er dar, an welchen Stellen sich seine Edition von den älteren Ausgaben unterscheiden wird und wie seine editorischen Entscheidungen mit den Perspektiven der aktuellen Forschung zu begründen seien.

Die Tagung bot ein ideales Forum, um die Desiderate der kanonistischen Forschung mit Blick auf das Decretum Burchardi zu diskutieren und vielfältige Impulse zur Weiterentwicklung des Vorhabens aufzunehmen. Zusammenfassend lassen sich im Rückgriff auf die eingangs gestellte Frage nach den Ansprüchen an eine neue Edition des Decretum Burchardi einige Punkte festhalten, die auch in der Abschlussdiskussion eine größere Rolle spielten. So sei es erstens notwendig, etablierte Forschungsmeinungen auf der Basis einer systematischen Beschäftigung mit der handschriftlichen Überlieferung genau zu überprüfen, planvoll zu ergänzen und gegebenenfalls zu revidieren. Zweitens erscheint es wünschenswert, die Fülle an Daten so zu systematisieren, dass einem breiteren Forschungspublikum künftig gezielte Recherchen möglich sind. Ein Beispiel dafür könnte eine Kartierung der Burchard-Rezeption sein, die eine unmittelbare Visualisierung von Verbreitungsdynamiken und -zusammenhängen gewährleistet. Drittens wurde beim angeregten Meinungsaustausch unter Experten aus Europa und den USA immer wieder darauf verwiesen, dass das Projekt „Burchards Dekret Digital“ als Pionierarbeit anzusehen sei, bei der es gelte, über die gedruckte Edition hinaus auch das volle Potenzial des digitalen Mediums auszuschöpfen.

Konferenzübersicht:

Ludger Körntgen (Mainz): Einführung

Martina Giese (Würzburg): Die Überlieferungs- und Editionsgeschichte der Vita Burchardi

Eric Knibbs (München): Welche Pseudoisidor-Handschriften kannte Burchard von Worms?

Kathleen Cushing (Keele): Burchard and the „Gregorian” Collections

Greta Austin (Puget Sound): Burchard’s Decretum and its relationship to the contemporary Collectio duodecim partium

Lotte Kéry (Mainz): Burchards Dekret und seine Quellen – Eine Analyse am Beispiel von Buch XII De periurio

Cornelia Scherer (Erlangen): Westgotische Rechtssammlungen im Decretum Burchardi

Christof Rolker (Bamberg): Verbrannt, aber nicht verloren: Ivos Burchard und der Chartreser Codex BM 161

Wilfried Hartmann (Tübingen): Das Sendhandbuch Reginos von Prüm. Erfahrungen mit einer Edition


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